Alle Ökosysteme sollen wieder hergestellt werden. Doch wo kommen die Flächen her?
Gastbeitrag von Mark Harthun in der Frankfurter Rundschau vom 08.01.2025
Im Hessischen Umweltministerium herrscht große Aufregung: Wie um Himmels willen soll die neue Natur-Wiederherstellungsverordnung umgesetzt werden, die im Juni von den europäischen Mitgliedstaaten beschlossen wurde? In einem Land wie Deutschland, das nur die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt ist?
Wer klopfet an? 90 Vogelarten sind heimatlos, 51 Schmetterlingsarten suchen eine Bleibe, 520 Großpilzarten brauchen Schutz, 496 Pflanzenarten suchen Zuflucht, 30 Libellenarten, 28 Säugetierarten und viele andere mehr, die in Hessen auf der Roten Liste bedrohter Alten stehen, bitten um Einlass. Ursache für ihre Bedrohung ist fast immer eine rücksichtslose Land- und Forstwirtschaft. Auch fehlen in unserer Kulturlandschaft Flächen mit natürlicher, dynamischer Entwicklung. Quirlige Bäche und Flüsse, die sich in den Auen verlagern können. Oder uralte, märchenhafte Naturwälder, wo mit knorrigen Baumriesen wilde artenreiche Landschaften entstehen, die wir seit Generationen nicht mehr erleben durften.
Die Wiederherstellungsverordnung verlangt nun Wiedergutmachung. In zwei Schritten sollen bis 2030 und 2050 alle Ökosysteme wiederhergestellt werden. Seitdem herrscht Ratlosigkeit in der Verwaltung. Woher soll das Geld kommen, das Personal -und vor allem: Wie soll man an die Flächen kommen? In der aktuellen Haushaltsdebatte geht es doch nur um Kürzungen?
Dabei steht ein großer rosa Elefant im Raum: Hessen verfügt über unermesslich viel Flächeneigentum, wo Lebensräume für die bedrohten Arten geschaffen werden könnten. Mit 3415 km2 ist das Land der größte Waldeigentümer in Hessen. Auf diesen Flächen ließen sich problemlos die verloren gegangenen natürlichen Wald-Lebensräume wiederherstellen. Ohne Kosten. Ohne Aufwand. Auch rund 150 km2 landwirtschaftliche Flächen befinden sich in Landeseigentum, auf denen Arten des Offenlandes eine neue Heimat finden könnten.
Doch ist in dieser großen Herberge leider kein Zimmer frei. Kommunen verfügen über die Parzellen von über 20000 km Fließgewässern in Hessen, deren Ufer als Lebensräume für die bedrohten Arten der Auen zur Verfügung gestellt werden könnten. Und ebenfalls über 3243 km2 Wald in der öffentlichen Hand.
Die Flächen sind also da. Und Eigentum verpflichtet nicht nur Private. Das Bundesverfassungsgericht urteilte schon 1990: „Die Bewirtschaftung des Körperschafts-und Staatswaldes (…) dient der Umwelt- und Erholungsfunktion des Waldes, nicht der Sicherung von Absatz und Verwertung forstwirtschaftlicher Erzeugnisse.“
Selbst Unternehmen bekennen sich inzwischen zu ihrer Verantwortung. Die Mitteldeutsche Hartstein-Industrie (MHI) öffnet seit Jahren die Tore ihrer Steinbrüche, um dort so viel Artenschutz wie möglich umzusetzen -trotz betrieblicher Interessen. Aber die Landespolitik ist nicht so weit. Laut dem neuen Koalitionsvertrag soll Naturschutz auf land- und forstwirtschaftlichen Flächen in der Regel produktionsintegriert umgesetzt werden. Produktive land- oder forstwirtschaftliche Flächen sollen nicht aufgekauft oder aus der Nutzung genommen werden. Es sei die Mobilisierung der Holzvorräte erforderlich. So bleibt halt drauß‘. Dabei ist 2024 der internationale Druck gestiegen: Ein EuGH-Urteil verurteilte Deutschland wegen unzureichenden Schutzes von artenreichem Grünland. Ein weiteres EuGH-Urteil zur unzureichenden Umsetzung der EU-Vogelschutzrichtlinie verurteilte zwar Griechenland, jedoch gilt es in gleichem Maße auch für Deutschland. Auch in diesem Fall muss Hessen große Anstrengungen ergreifen, einen besseren Schutz für zahlreiche Vogelarten zu gewährleisten. Und auch die EU-Biodiversitätsstrategie verpflichtet Hessen zu mehr Naturschutz: Es fehlen vor allem Flächen mit natürlicher Entwicklung auf zehn Prozent der Landesfläche, in der sich Natur frei entfalten kann.
Tiere, Pflanzen und Pilze machen das besser als wir: Sie schaffen selbst Herbergen für viele weitere Arten, wenn man sie nur lässt: Der Schwarzspecht klopft Höhlen in alte Bäume für 60 verschiedene Nachmieter. Der Fruchtkörper des Zunderschwamms bietet Lebensraum für 600 Insektenarten. Greifvögel bauen die Horste für Uhus und Waldohreulen, die selbst keine Nester bauen. Biber verwandeln als Landschaftsgestalter ganze Bäche in Lebensadern und sichern das Überleben unzähliger Arten. Wenn wir solchen Arten eine Chance geben, wieder eine Heimat zu finden, nutzen wir ihre Potenziale, unsere Natur reicher zu machen. Mehr Natur ist auch ein Gewinn für uns Menschen. Lebensqualität in tristen Zeiten. Öffnet die Tür – die Tore macht weit!